Der Nicht-Zauber der Sondierung

Stichwort Sondierungspapier: Der Aufregung zufolge könnte man ja meinen, diese 28 Seiten wären so eine Art verschollener Harry Potter-Band. Ich hab das Ding gerade mal gelesen und kann hiermit sagen: sind sie nicht. Vor allem fehlt dem Papier eines der Grundmerkmale von Joanne K. Rowlings Romanen: der Zauber.

Man kann mit diesem Ergebnis der Sondierungsgespräche eigentlich alles machen. Man kann sich darüber freuen, dass gleich am Anfang ein großes Kapitel zum Thema „Europa“ steht. Man kann sich darüber ärgern, dass „Klimaschutz, Energie und Umwelt“ erst auf Seite 24 auftauchen. Man kann erleichtert feststellen, dass Themen wie Kinderarmut, Altersarmut und Pflegenotstand es immerhin ins Bewusstsein der Verhandler geschafft haben. Und gleichzeitig kann man sich fragen, ob es denn auch wirklich konkrete und erfolgversprechende Gegenmaßnahmen enthält. Man kann sich auch über den offensichtlich von der CSU hineingeschmuggelten Obergrenzen-Ersatz-Satz ärgern („… stellen wir fest, dass die Zuwanderungszahlen die Spanne von 180 000 bis 220 000 nicht übersteigen werden“. Kann man sowas feststellen? Klingt für mich ein bisschen, als würde ich vor meinem nächsten Geburtstag meinen Freunden mitteilen: „Hiermit stelle ich fest, dass der Gesamtwert meiner Geburtstagsgeschenke 100 Euro nicht unterschreiten wird.“) Nur eines kann man sicher nicht: Begeisterung dafür entwickeln.

Bekommen Koalitionsverträge nicht immer ein Motto, eine Überschrift? Falls aus diesen Sondierungsergebnissen wirklich mal ein Vertrag wird, empfehle ich als Titel: „Ach… na ja.“ Oder: „Wir haben doch auch keinen Bock!“. Vielleicht auch einfach: „Seufz!“ Das entspräche dann auch den Bildern, die ich nach der beendeten Sondierung von den Parteispitzen gesehen habe: Martin Schulz wirkte nicht wie jemand, der in eine Regierung eintreten will, sondern wie ein Familienvater, der seinen Kindern erklären muss, warum der Hund jetzt doch eingeschläfert wird. Ausgerechnet Horst Seehofer stand daneben wie die mitfühlende Gattin, die ihrem Mann in dieser schweren Stunde beistand. Und Angela Merkel hatte ihr schönstes „So, kann ich dann jetzt weiterregieren?“-Gesichtchen aufgesetzt.
Seufz!

Hat denn wirklich niemand das Gefühl, dass es gerade um ein bisschen mehr geht als „Hier kitten, da ausbessern und sonst halt hoffen, dass es nicht auseinanderfällt“? Ist schließlich ein Land und kein IKEA-Regal. Wenn sich, wie es momentan scheint, große Teile der Bevölkerung nicht mehr repräsentiert fühlen, viele sich extremen Parteien zuwenden und andere in Gleichgültigkeit oder Verachtung flüchten – wäre es da nicht eine gute Idee… eine gute Idee zu haben? Ein Motto? Einen Plan? Wäre es nicht irgendwie sinnvoll, sich zusammenzusetzen und zu sagen: „Hört mal: die Wirtschaft boomt, die Steuereinnahmen sprudeln und trotzdem rennen uns die Wähler scharenweise davon. Wir brauchen etwas, das die Leute wieder für die Demokratie und für das Land begeistert und zusammenbringt. Ein echtes Thema! Irgendwas, das einen Hauch griffiger ist als „Sachgrundlose Befristung“, vielleicht?“

Was das sein könnte? Keine Ahnung. Wie wär’s denn vielleicht mit der von Martin Schulz im Wahlkampf so oft geforderten Gerechtigkeit? Oder der von Angela Merkel im Wahlkampf so oft geforderten… äh … huch, kann es sein, dass unsere Bundeskanzlerin im Wahlkampf vergessen hat, irgendwas zu wollen? Egal. Ist ja noch Zeit. Hauptsache es wird nicht: „Wir machen durch bis in vier Jahren und singen bumsfallera.“ Sonst kann diese GroKo ihrem Vertrag in ein paar Jahren vielleicht nachträglich noch einen Untertitel geben: „Wie wir mal eine große Chance hatten und sie spektakulär versemmelten.“