Wir haben uns verrannt

In alten Slapstick-Komödien läuft das folgendermaßen: Jemand tickt völlig aus, brüllt rum, gestikuliert wild, hyperventiliert und macht sich ordentlich zum Affen. Dann kommt ein anderer, zieht ihm recht ordentlich eine über die Rübe und alles ist wieder gut.
Daran muss ich oft denken, wenn ich momentan Nachrichten lese. Nur dass irgendwie nicht nur einer, sondern ganz viele gleichzeitig austicken und es deshalb auch kaum noch jemanden gibt, der Zeit und ne Hand frei hätte, den anderen im übertragenen Sinn auf den Kopf zu hauen.

Nur mal ein paar Beispiele aus den letzten Wochen: In Stuttgart schießt ein 19jähriger aus einem Auto heraus auf einen Passanten und schreit dabei „Lauf, Schwarzer!“. Laut einer neuen Studie glauben 33 Prozent der Deutschen, dass ihr Land überfremdet sei, mehr als 40 Prozent wollen Muslimen die Zuwanderung untersagen und immerhin 10 Prozent glauben, dass Juden mehr als andere Menschen mit üblen Tricks arbeiten. Türkischstämmige Bundestagsabgeordnete werden aufgrund ihrer Abstimmung bei der Armenienresolution mit dem Tod bedroht. 40 Prozent der Deutschen finden es „ekelhaft“, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen. In Köln läuft der Prozess gegen den Attentäter, der die Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker wegen ihrer Flüchtlingspolitik niedergestochen hat – er zeigt keinerlei Reue. Und eine EM-Kommentatorin des ZDF wird von hunderten Facebooknutzern in Grund und Boden geschimpft, weil sie, na die traut sich was!, eine Frau ist.

Jaja, ich weiß, wilde Mischung, „Äpfel mit Birnen“ und so, aber geht es nur mir so, oder könnte man sagen: „Mensch, ganz schön viel Wahnsinn in der Luft, grade!“? Und auch wenn ich davon ausgehe, dass die wenigsten in unserem Land schon mal daran gedacht haben, auf irgendjemanden einzustechen oder ihn mit dem Tod zu bedrohen, habe ich den Eindruck, dass momentan etwas in eine ganze falsche Richtung geht. Dass sich das Klima verändert. Dass wir uns verrennen. Und das hat verschiedene Gründe:

Wir lieben „Wir gegen die!“
Inländer gegen Ausländer, Heteros gegen Homos, Muslime gegen Juden, Nichtpolitiker gegen Politiker – man kriegt manchmal den Eindruck, so richtig gut geht es uns nur, wenn wir andere Scheiße finden können. Das ist auch prinzipiell kein Problem, funktioniert in anderen Bereichen ja auch. Die gesamte Bundesliga basiert auf dem Prinzip „Wir gegen die“. Aber wie beim Fußball wird auch in der Demokratie ein Problem daraus, wenn sich diese Ablehnung in Gewalt entlädt. Vereinfacht gesagt: Demokratie heißt, andere unfassbar Scheiße finden zu dürfen und ihnen trotzdem ein friedliches Leben zu gönnen. 

Wir glauben, früher waren Dinge besser
Das Programm z.B. der AfD funktioniert so: Die aktuelle Situation gefällt uns nicht, deshalb müssen wir die Zeit nur ordentlich zurückdrehen, all diesen modernen Unsinn (Frauenrechte, Umweltschutz, Minderheitenrechte) wieder abschaffen, dann wird alles wieder gut. Sorry, so läuft das nicht. 
Habt Ihr eine Oma, die noch die 50er Jahre oder vielleicht sogar den zweiten Weltkrieg miterlebt habt? Wunderbar. Dann fragt die doch mal, was „früher“ alles besser war. Seid aber nicht böse, wenn ihr außer „Die Erdbeeren!“ und „Mein Knie!“ nicht viel einfällt. Kann sein, dass Oma einfach die meiste Zeit ihres Lebens damit beschäftigt war, Wäsche von Hand zu waschen, für Lebensmittel anzustehen, zerbombte Häuser aufzubauen oder einfach dafür zu sorgen, dass keiner aus ihrer Familie verhaftet, verschleppt oder erschossen wird. 
Wenn einem die aktuelle Situation nicht gefällt, liegt die Lösung nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft, die im Idealfall eine weiterentwickelte und verbesserte Gegenwart ist. Wenn dein Laptop ständig abstürzt kaufst du dir ja auch nicht aus Protest einen C64.

Wir glauben, dass man heute nichts mehr sagen darf
Also, wenn es stimmt, dass man „heutzutage nichts mehr sagen“ darf, dann wurden scheinbar nur die schlauen Sachen verboten. Dummes Zeug höre ich jeden Tag! Die Wahrheit ist: Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, die eigene Meinung loszuwerden, wie momentan. Und noch nie hatte man dabei so wenig zu befürchten wie heute. Ist eure Oma noch da? Super, dann macht doch mal den Test. Nehmt mal einen Satz wie: „Der Papst ist auch nur ein alter Mann mit lustigem Käppi“ oder „Mann, geht mir unser Staatsoberhaupt auf den Senkel!“ So. Völlig harmlose Sätze, oder? Dann fragt mal eure Oma, was passiert wäre, wenn sie diesen Satz in den 40er Jahren vom Stapel gelassen hätte. Aber stellt schon mal die Kreislauftropfen parat.

Wir haben ein völlig falsches Bild von „pc“
Politische Korrektheit wurde in den letzten Jahren so etwas wie der Vegetarismus der Politik: Tief in ihrem Herzen wissen alle, dass das schon seinen Sinn hat, aber mein Gott, wie uncool! Echte Freigeister sagen und vor allem posten immer das, was Ihnen gerade durch den Kopf stolpert, packen auch mal die Beleidigungskeule aus, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen und so richtig frei ist sowieso nur, wer auch ungehemmt über Schwule, Schwarze und Behinderte abledert.
Ähm… Nein.
Um zu verstehen, warum politische Korrektheit gar nichts Schlimmes ist, hilft es vielleicht, sich mal dran zu erinnern, wie „pc“ noch vor zwanzig Jahren hieß: Anstand (Oh Gott, noch uncooler!). Wer ohne Sinn und Verstand andere Menschen beleidigt, Behauptungen aufstellt und verbreitet, die gezielt gegen andere Bevölkerungsgruppen gerichtet sind, ist nicht mutig, kein Desperado, und kein politisch inkorrekter Freigeist, der’s „endlich mal sagt, wie’s ist“, sondern hat, Achtung, Gipfel der Uncoolness!, einfach nur ganz schlechte Manieren.

Wir biegen uns Grundrechte zurecht
Ja, es gibt Religionsfreiheit, aber der Islam gehört nicht zu Deutschland. Ja, wir glauben an die Gleichstellung von Mann und Frau, aber nicht, wenn’s um die Bezahlung geht. Schwule und Lesben sollten gleichberechtigt sein, aber Kinder dürfen sie natürlich nicht adoptieren.
So läuft das nicht. Grundrechte gelten für alle Menschen, nicht nur für alle, die zufällig genauso aussehen/lieben/glauben wie ich.

Apropos: Religion!
Was ist eigentlich mit den Religionen in den letzten 20 Jahren passiert? Religion, das war bei uns in der Schule das, wo man die Hausaufgaben für die anderen Fächer gemacht hat. Ende. Warum sind Religionen plötzlich wieder so ein Riesenthema? Nochmal: Jeder soll glauben, was er will. Zuhause, privat oder mit seinen Mitgläubigen. Aber können wir uns vielleicht darauf einigen, dass Religion in der Politik nix, aber auch rein gar nix zu suchen hat? Einfach nur, weil 2000 Jahre alte Bücher und unsichtbare Wesen keine besonders qualifizierten politischen Berater sind?

Wir vertrauen den Falschen
60 Prozent der Deutschen sagen, dass sie ihre Informationen nur noch über Facebook und Twitter beziehen. Wahnsinns-Zahl, oder? Kein Wunder, ich habe sie auch soeben frei erfunden. Warum? Weil ich’s kann. Ist schließlich nur Facebook/Twitter/ne Homepage. Wir müssen uns unbedingt wieder klar machen: Facebook ist keine Nachrichten- sondern eine Meinungs- und Unterhaltungs-Plattform. Man fährt ja auch mit einem Bierbike kein Radrennen und macht keinen Triathlon im Spaßbad!
„Aber wo sollen wir unsere Informationen denn sonst her beziehen?“, höre ich die ersten rufen. „Von der Lügenpresse etwa?“ Ja, genau von der. Natürlich machen auch Journalisten Fehler. Viele Fehler. Glaubt mir, als Stand-up Comedian mit dem Nachnamen „Barth“ weiß man, wie oft Journalisten was verwechseln. Trotzdem: Sich nur noch bei Facebook zu informieren, weil man der Presse nicht traut, ist wie nur noch bei McDonalds zu essen, weil man sich nicht sicher ist, ob Muttis Essen wirklich immer gesund ist.

Wir attackieren die Falschen
Immer wenn sich im Netz mal wieder jemand darüber beschwert, dass z.B. „die Flüchtlinge“ den Staat ausnutzen, frage ich mich, ob der Verfasser gerade an einem IKEA-Schreibtisch sitzt. Und ob er weiß, dass IKEA – genauso wie Apple, Amazon oder Google – seit Jahren jeden noch so schäbigen Steuertrick ausnutzt, um auch ja möglichst wenig vom hier erwirtschafteten Milliardengewinn an den Staat abzudrücken.
Was ich damit sagen will: Es gibt tausend gute Gründe, sich über Leute aufzuregen, die den Staat ausnutzen. Wir sollten uns nur endlich mal die Richtigen rauspicken.

Wir setzen Nationen mit ihren Staatsoberhäuptern gleich
Nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland attackieren wir die Falschen – oft ganze Nationen. Wir lassen uns zu hanebüchenem Hass verleiten, weil wir glauben zu wissen „wie die so sind“: Die Russen sind alle wie Putin, die Türken sind alle wie Erdogan und die Polen sind alle wie Kaczynski. Das ist Unsinn. Ungerechter, schlimmer Unsinn. Die Russen sind so wie Du, die Polen wollen auch nur ihre Familie ernähren und die Türken schauen vielleicht gerade denselben Film wie du. Es gibt einen Unterschied zwischen Völkern und ihrem politischen Personal – selbst wenn die Völker dieses Personal gewählt haben. Wer das nicht glaubt, kann ja mal überlegen, wie sehr er sich „wie die Merkel“ oder „wie der Gauck“ fühlt.

Wir glauben: „Wir sind nicht schuld, dass die Welt so ist, wie sie ist“
Ja wer denn sonst? „Die da oben“? Mein Eindruck ist: „Die da oben“ sind auch nur „Wir da unten“ mit besseren Anzügen. Klar können einen viele Geschichten frustrieren, die man Riesenkonzernen oder korrupten Politikern hört. Aber wenn einen zum Beispiel die Machenschaften von Amazon nerven, steht es jedem völlig frei, das nächste Buch im örtlichen Buchhandel zu kaufen. Und wer glaubt, dass „wir da unten“ keinen Einfluss auf „die große Politik“ hätten, kann dazu ja noch mal ein paar alte SED-Bosse befragen. 

(Achtung, Plattitüden-Alarm, aber ich weiß wirklich nicht, wie ich’s anders sagen soll:) 
Wir haben keine Ahnung, wie gut es uns geht. Wirklich gar keine.
Nochmal ein Test. Schreibt mal auf, was Ihr in der letzten Woche so getrieben habt. Alles. Wo Ihr essen wart und mit wem. Welchen Film ihr gesehen habt. Was Ihr euch gekauft habt. Mit wem Ihr Sex hattet. Was Ihr gearbeitet habt und wieviel Geld Ihr dafür bekommen habt. Welche Krankheiten Ihr hattet, und wie ihr deshalb behandelt wurdet. Was Ihr im Fernsehen geschaut habt. Über welche Themen Ihr wie offen mit wem diskutiert habt. Alles.
So. Und jetzt lasst mal euren Finger über einer Weltkarte kreisen, setzt ihn dann auf irgend ein Land und überlegt euch doch mal, welche der oben aufgeführten Aktivitäten in diesem Land nicht oder nur eingeschränkt möglich gewesen wären, wofür ihr ordentlich eins auf die Fresse bekommen hättet oder eingesperrt worden wäret. Ihr werdet überrascht sein. 

Wir glauben, Demokratie läuft von allein
Dass wir seit gut 70 Jahren in einer friedlichen Demokratie leben, ist ein Glücks-aber kein Zufall. Jedes Recht und jede Freiheit, über die wir heute verfügen, haben wir, weil irgendwann mal jemand dafür gekämpft hat. Und jedes Recht und jede Freiheit kann man genauso schnell wieder verlieren, wenn niemand mehr dafür kämpft. 

Was ich mit diesem Text bezwecken will? Schwierig zu sagen. 
Keine Angst, ich bin nicht bescheuert: Ich glaube nicht, dass ich damit irgendwelche Rassisten bekehre. Dass ich „Homogegner“ toleranter mache oder Facebook-Hater dazu bringe, nur noch Einhornbildchen zu posten (und wenn dann ganz wütende Einhörner!)
Aber vielleicht hilft er ja, dass Leute, die eher so auf der politischen Kippe stehen, wieder die Balance finden. Dass solche, die sich noch nicht völlig verrannt haben, kurz ihren Kompass rausholen und noch mal draufschauen. Und dass Menschen, die noch nicht zu den 7 Prozent der Deutschen gehören, die eine Diktatur „unter bestimmten Umständen für die bessere Staatsform“ halten, erkennen, dass das mit der Demokratie zwar ne anstrengende, aber insgesamt doch sehr lohnende Angelegenheit ist.  
Denn Austicken, Hyperventilieren und zum Affen machen bringt uns einfach nicht weiter.